Leere Herzen. Politthriller.
Juli Zeh, Luchterhand Literaturverlag, 13. November 2017

Leere Herzen

Dreiundachtzig Prozent

Kurz nach der Bundestagswahl im September 2017 machte eine Zahl die Runde durch die sozialen Netzwerke, Chats und Foren: Von den fast schon magischen 83 Prozent war überall die Rede, denen man als guter, ethisch und moralisch denkender, demokratischer Mensch angehören würde, weil man schließlich nicht "die da" gewählt hatte, der Dreckspatzen, die Lauten, die Nationalistischen, die Unerträglichen, die immerhin und erschütternderweise 17 Prozent abbekommen hatten. So lange man einer solch deutlichen Mehrheit angehörte, war immer noch alles im Lot, wollte man sich dadurch sagen, und nicht wahrhaben, dass man sich in die Tasche log. Denn die Zahl bedeutete nichts weiter, als dass sich bislang 83 Prozent der Leute noch nicht getraut hatten, ihren blanken Egoismus, ihren Sozialneid, ihren Frust, ihre Faulheit, ihre Gier, ihre Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen und nicht zuletzt ihren latenten Rassismus in eine Wahlentscheidung einfließen zu lassen. Ganz davon abgesehen, dass zu den Parteien, die die 83 "guten" Prozent eingesammelt hatten, auch nicht nur strahlende Helden der täglichen Nächstenliebe gehörten.

In Juli Zehs neuestem und sehr schnell nach "Unterleuten" erschienenen Roman sind auch diese 83 Prozent überwiegend umgekippt und haben die "BBB" an die Macht gewählt, die "Bewegung besorgter Bürger". Mithin regieren diese Leute, die Ära Merkel liegt mehr als zehn Jahre zurück, und das Land wird ganz gemächlich, aber akribisch durchnationalisiert. Überall veranstalten "Sport-ist-öffentlich"-Gruppen gemeinsam Leibesübungen, Zeitungen sind eingestellt oder nach rechts gerückt, die Ladenpassagen stehen leer oder haben ausschließlich deutsche Mieter, "Effizienzpakete" werden umgesetzt und die EU wird demontiert, von der nach dem "Frexit" und weiteren Abspaltungen sowieso kaum noch etwas übrig ist.

Waren sie in den ersten Jahren noch fassungslos, sind jene, die vor diesem Erdbeben der intellektuellen Elite angehörten, inzwischen verstummt, haben sich mit der Situation abgefunden, wie eine Entpolitisierung im gesamten Land wahrzunehmen ist. Zu jenen, die sich früher interessiert haben, jetzt aber nur noch ihren persönlichen Profit aus der Situation zu schlagen versuchen, gehört die smarte, kluge und extrem ordnungsliebende Britta, die mit ihrem Geschäftspartner Babak ein Unternehmen namens "Brücke" betreibt. Die Brücke ist vorgeblich eine psychotherapeutische Praxis, die suizidgefährdete Menschen vom Selbstmordwunsch befreit, hinter den Kulissen aber mehr als das tut: Wer das haarsträubende 12-Stufen-Programm durchläuft und "oben" ankommt, ohne den Selbsttötungswunsch abgelegt zu haben, wird als Attentäter an NGOs vermittelt, etwa "Green Power" oder ähnliche. Britta und Babak haben das Geschäft mit dem selbstmörderischen Anschlag durchorganisiert, mit unternehmerischer Verlässlichkeit versehen und als gesellschaftliches Phänomen etabliert. Die Geschäftsidee ist mehr als erfolgreich. Britta kann Freunden Geld leihen, um ein Häuschen im Grünen zu kaufen, und lebt selbst mit Ehemann Richard und Töchterchen Vera relativ glücklich im blitzsauberen Betonhaus am Rand von Braunschweig. Wären da nicht ständig diese Bauchschmerzen.
Und gäbe es da nicht diesen Anschlag auf das Frachtterminal des Leipziger Flughafens. Einen Anschlag, der nicht über die "Brücke" organisiert wurde, sondern von zwei Attentätern auszuführen versucht wurde, die seltsame Tätowierungen am Hals trugen: Empty Hearts - leere Herzen.

Man merkt "Leere Herzen" deutlich an, wie sehr sich Juli Zeh mit diesem Buch ihre persönliche Wut (das ist eigentlich das falsche Wort, kommt der Absicht aber am nächsten) von der Seele geschrieben, wie sehr sie sich hier mit einem Thema befasst hat, das sie energisch umtreibt und in einer Weise sorgt, die mit diffusen Ängsten vor "Überfremdung" oder ähnlich fiktiven Problemen nichts gemein hat. Der Roman hat enorme Kraft, sehr hohe Geschwindigkeit, ist getrieben und atemlos, dabei stringent, logisch, präzise geplant, ungeheuer klug, sehr spannend und großartig besetzt. Im Gegensatz zum vorletzten Roman "Nullzeit", der als ein solcher verkauft wurde, ist "Leere Herzen" fast ein Thriller, dazu eine bösartige, aber keineswegs böswillige Vision, eine Warnung, von der man nur hoffen kann, dass sie gehört wird, aber dieser Wunsch ist unrealistisch, denn die Richtigen lesen solche Bücher nie. Kluge Manifeste teilen zumeist das Schicksal, nur von Leuten zur Kenntnis genommen zu werden, die ohnehin schon die Meinung der Autoren teilen.

"Leere Herzen" ist ein atemberaubendes Buch, meiner Meinung nach in gewisser Weise Juli Zehs bester Roman - von dem man also nur hoffen kann, dass er häufig in die falschen Hände gerät, damit am Ende nicht nur acht Komma drei Prozent übrigbleiben. Denn dort, liebe Mitmenschen, wird die Reise hingehen, wenn wir nicht aufpassen.

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

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